Zuhause kann vieles bedeuten. Geborgenheit. Angekommensein. Besitzansprüche. Freiheit im eigenen Lebensraum. Oder auch dessen Enge. Zuhause ist der Ort, wo man Freunde und Fremde empfängt. Oder fernhält. Dort, wo man Herr sein will. Auf der Karte oder im Herzen. Im diesen Monaten bin ich zwischen Tel Aviv und Kiryat Yam um einen Film über die russischprachigen Einwanderer in Israel zu machen. Ihre Aliyah bedeutet Aufstieg, die Rückkehr der Diaspora. Die Rückkehr nach Hause. Es ist die Geschichte einer Suche nach diesem Ort und nach einem neuen Ich. Manch einer wird fündig, ein anderer nicht. Drei Menschen, drei Leben, drei Geschichten.

Samstag, 20. November 2010

In Gesellschaft

Es gab viel Gesellschaft am Strand. Dort wo vor wenigen Sekunden noch nichts war. Die Oberfläche gibt nach und zieht kleine Risse. Die ebene, von Wind und Wasser etwas feuchte Sanddecke stürzt ruckartig in sich hinein und offenbart einen kleinen Weg, einen Tunnel, der endlich zum Licht führt. Noch ein Ruck, und eine Krabbe zieht sich aus dem dunklen Fleck der Körnchen. Sie ist noch nicht ganz draußen, sie traut sich noch nicht. Neben ihr und weiter ploppen immer mehr kleine Buchten auf und andere Tiere kommen, zeigen scheu ihre Glieder, angekündigt durch eine letzte Sandfontäne. Ihre Beine und Köpfe blinzeln auf und ab, zwischen Licht und keinem, sie tasten sich voran, gewöhnen sich langsam an den Lärm der Straße, das Rauschen des Meeres, das hier jedes andere Geräusch überzublenden scheint. Schaut man einen kurzen Moment weg, zuckt die Krabbe wieder in ihr Häuschen, sie zögert. Ein Hieb, ein Stoß und sie ist oben. Viele Minuten vergehen bis sich wieder etwas regt. Die leiseste Bewegung, der Schatten einer vorbeiziehenden Fliege könnte sie zurückscheuchen. Ein letzter Ruck, und  sie ist endgültig oben. Ihr kleines schattiges Heim steht leer, während sie hastig, wahllos auf ihren neuen Reichtümern umherläuft. Von einem Hügel zum nächsten.

Nach fast einem Monat Israel fangen Abende, Menschen und Gesichter an sich zu vermengen. Was eines ersten Abends meine Augen nicht mehr schließen, mein Herz klopfen oder kalten Schauder über meinen Rücken laufen ließ, ist nun, wenn auch nicht zu meiner, Gewohnheit geworden. Geschichten der Schwebe, häufiger der Einsamkeit, des Aufbruchs und der Flucht. Noch nie habe ich in so kurzer Zeit so viel persönliches Erfahren. Als hätten die Münder nur darauf gewartet, dass jemand kommt, auftaucht aus dem nichts und ihre Worte auffängt.

Einige Gesichter lachen und singen. Ihre Augen leuchten wenn sie von der israelischen Sonne und saftigen Früchten sprechen, von dem Sand im Haar, wenn man im November vom Strand zurückkommt und von dem Himmel, der hier so nah ist. Von der Freiheit, der Gelassenheit, die sie hier leben. 

Einige Gesichter haben einen, zwei, drei Funken Galle, die die Mundwinkel leicht nach unten biegt und brodelt und immer wieder leise flüstert, dass es Zuhause Schnee gab. Und Jahreszeiten. Und nicht diese verfluchten Chamsine, mit einer Luft, die man mit Löffeln essen kann.  Sie erzählen viel aus der Vergangenheit, als wäre sie heute. Als könnte man sie zurückholen, und wenn man das täte, wäre die Welt wieder in Ordnung. Und sie wissen, was andere falsch machen. Sie wählen und verändern sich, verlieren sich in neuen Aufgaben und Identitäten, die sie vor der brennenden Sonne erwartungsvoller Augen schützt. Wie im Spiel –

Die Prinzessin ist Ruhe und Wirbel zugleich. Ihre schwarzen unbändigen Locken fallen ihr ins Gesicht, sie streicht sie zurück, sodass ihre Armbänder bis zum Ellenbogen klimpern. Geschäftig dreht sie die kleine Gaskochplatte an und macht gutes großmütterliches, russisches Essen. Kartoffeln mit Dill und Knoblauch, und wenn sie etwas zerfallen, lässt sie ein kleines Stück Butter hineinfallen. Autos, Sirenen und Wind drängen sich in die weit aufgerissenen Fenster ihres winzigen Dachzimmers im Herzen Tel Aviv. Hier ist Zuhause, sagt sie. Und lächelt. Sie ist verliebt in den Raum, den man hier einfach ergreifen kann. Zum leben und sich manchmal verwandeln.  Und manchmal kriegt sie Besuch.

Der Ritter kommt aus Jerusalem und scheint vieler Sachen Meister. Er hat diverse Gürtel, schwarz und schwarz, und baut Rüstungen für Rollenspielfeste. In Sibirien hatte er einen Garten und ging mit dem Onkel Bären jagen. Er kann wunderbare Pfannkuchen und Pralinen machen und stammt von einem polnischen Adelsgeschlecht, wie er selbst erzählte. Und wenn es sein muss, kann er seine Frau ordentlich am Kopf packen und unter den kalten Duschstrahl halten. Sie war immer der Auffassung, ein richtiger Mann muss einen ordentlichen Schlag in den Kiefer verkraften können. Und selbstverständlich auch erwidern. Das war seine erste Frau. Ein Teufelsweib, echte sibirische Braut. Er grinst. Seine kindliche Zahnlücke spiegelt sich in der riesigen Narbe auf seiner Brust. Bei ihm und seinen Ritterkollegen herrscht eiserne Disziplin. Wenn man aufs Schlachtfeld kommt, muss man sich aufeinander verlassen können. Kein Alkohol, keine Drogen. Sicher muss man sich sein, wenn man in seinem Frust und Wut mit der Holzpique auf einen Freund zustürmt. Nüchtern heißt überlegt. Der Rest ist Zufall. Er hat schon viele Rüstungen platzen und reißen sehen. Und hat dann den Erlegten im Krankenhaus besucht. So ist es, besser in der Schlacht als Zuhause. Oder auf der Straße. In der Armee war es schwieriger. Liegst im Graben, Kommando „nicht schließen“. Wir sahen sie doch da vorne liegen und auf uns zielen, die Schweine! Wir hatten sie im Visier! Nicht schießen.  Da kann man nichts machen. Aber wenn sein Blick auf die Prinzessin fällt, wird er wieder milder.

Sie sagt es gibt viele Verrückte, vor allem hier in Tel Aviv. Solche, die nicht zurechtkamen, die hängengeblieben sind. Es sind ihre Freunde, ihre Nachbarn. Ihre Konten sind gesperrt. Das Land können sie nicht verlassen, nur ihre Zimmer.  Sie bleiben da, häufig um Mittag in einem der Spätis auf der Allenby, oder bei der Tahana Mirkazit, wo man nach Belieben Cognac und Jägermeister zu 100 Gramm im Plastikbecher kriegt. Sind sie enttäuscht? Ging es ihnen mal besser? Man habe ihnen Zuhause das Land von Milch und Honig versprochen, hört man oft. Und dann, sind einfach viele gefahren. Und wir sind gefahren…Ach.
Sie erzählt viel von heute und morgen. Von diesem Leben. Der Prinzessin gefällt es hier. Moskau hat sie schon fast vergessen. Ihren Stress und Stau und Frost und und und. Sie ist seit fast zwei Jahren im Land.

Mittwoch, 10. November 2010

Der Mensch des Jahres. Ein Abend im Norden.


Die Maschine hat viele Gesichter. Sie hat bunte Lippen und ebenso bunte gewobene Kunstfaser, Nadelstreifen und weiße Mokassins, und zwischendurch auch mal einen Goldzahn. Sie ist unruhig und froh wenn sie sich durch den Eingang in die Halle drängt. Bei der Temperatur schwitzt sie ein wenig und hält neben sich drei Plätze frei. „Tamara! Ja, ja, beseder, steh‘ nicht so rum, komm‘ her, mein Vögelchen...“ Die Tribünen füllen sich mit Gewirr aus fünf Hundert Stimmen, die sich gegenseitig etwas Neues, aber häufiger etwas Altes erzählen und deren Akzente eine satte Wolke bilden, die erst von zaghaftem, fleckigem Klatschen und sich legendem Licht unterbrochen wird. Es ist eine Zeitmaschine, die einen dreißig Jahre zurück und über zwei Tausend Kilometer in Richtung Sonnenaufgang führt.  So einfach. Ich bin gereist durch Dörfer und Republiken, an Orte, an denen ich niemals war und kenne sie doch so gut. Ihre Arten und Riten.

Der geladene Moderator ist das erste Mal in der Stadt und freut sich sehr. Auch seine Dolmetscherin, die seit zwanzig Jahren hier lebt freut sich. Ihr Kleid glänzt schön und die Stimme zittert. Das ein oder andere Wort wiederholt sie mit Nachdruck und in ihrem Hebräisch spiegeln sich die harten russischen Vokale. Wir danken dem gastfreundlichen Bürgermeister. Und dem Fernsehsender, der diesen Abend, an dem die ehrwürdigsten der ehrwürdigsten Bürger der Stadt von dem ehrwürdigen Komitee ausgezeichnet werden, ermöglichte. Für die Errungenschaft im Bereich der Literatur, für die Errungenschaft im Bereich der Physischen Erziehung, den Einsatz für die Kaukasischen Gemeinde – an Helden und Vorbilder unserer Stadt. Sauerstoffreiche Gesichter des Jugendblasorchesters und Jungen- und Mädchenkörper in schwarzem wallendem Samt und dagestanischen Tänzen lassen die bunten Lippen erst verstummen, um sie alsbald zu vergnügtem, teils stolzem Lächeln zu formen. Wir freuen uns in der ersten Kategorie den Spezialpreis der Jury an unseren werten Herr Bürgermeister zu verleihen! Auf dass er weiterhin so gut und gerecht über unsere Stadt regiert. Auf dass die dritte Legislaturperiode nicht auf sich warten lässt! Das Mikrofon hat es gut, es hat keine Wahl. Applaus, meine Damen und Herren!

Samstag, 30. Oktober 2010

Nacht 1


Trockene Gräser und Gebüsch zerkratzen die dazwischen, rein, vorbeihüpfenden Beine. Staub und Dunst liegen über dem Weg in einer dichten Decke und ehemals grüne Blüten ragen in die Luft in der Konkurrenz mit leuchtenden Raketen, den Türmen Tel Avivs. Liegt man am Boden, auf dem Boden, im Gras, kann man nicht wissen, was höher ist. Die Nachbarschaft.  Es ist die Zentrale. Eine ehemalige, heute verlassene, eingemauerte Militärbasis irgendwo in Tel Aviv. Meine Augen waren nicht verbunden, doch der Weg ist mir unwiederbringlich entwischt. Es ist ein Rückzugsort unterschiedlicher Charaktere. Ein Musiker, Schauspieler, Artist, ein Herr der Straße und Luftballons hat mich hierher gebracht. Eine Zeitlang war das sein Zuhause. Und noch von einigen anderen. Die Höhlen sind noch da. Als ich klein war habe ich ähnliche Höhlen im Datschagarten meiner Oma gebaut. Wo die Bäume zusammenwachsen und ihre Äste eine natürliche Hülle bilden. Hier sind Matratzen, Strandtücher, Gitarre und Melodika, Hefte und Dosen miteinander vermengt. Eine riesige Mappe im Gras versteckt ein schweres, stählern leuchtendes Stativ. Ein Profigerät, so schwer, wie ungebraucht. Aber es kann eh niemand mitnehmen. Hier kommt niemand hin. Niemand kennt den Eingang, den kleinen Einriss in der Mauer auf der Nordseite, da wo der Zaun auch eine Lücke hat.
Der Artist ist mein Gastgeber. Einige Stunden zuvor erwartete er mich am Flughafen, mit seiner halben Tastengitarre und seinem Kollegen aus Luft. Der echte lächelte kindlich, trotz silberner Fäden, die seinen Lockenkopf durchziehen und reichte mir den luftigen. Die Kinder schauten neidisch. Die Sonne war noch nicht auf, aber wir schon im südlichen Tel Aviv. Auf einer Dachterrasse. Als Überraschungsgäste. Der gesprächige Nilpferd, eine Freundin vom Nilpferd, die Besitzerin des Dachs und ihr Hund Sauvage öffneten die Tür. Als die Luft gegen 5 Uhr morgens ein wenig abkühlte gab es Tee und Zigaretten während der aufgeregte Sauvage seine kalte Schnauze an einem der Frauenbeine streifte. Und wir zogen weiter in Richtung Allenby und der Zentrale.  Auf ein anderes Dach. Der Ventilator brummte laut, als ich einschlief.