Es gab viel Gesellschaft am Strand. Dort wo vor wenigen Sekunden noch nichts war. Die Oberfläche gibt nach und zieht kleine Risse. Die ebene, von Wind und Wasser etwas feuchte Sanddecke stürzt ruckartig in sich hinein und offenbart einen kleinen Weg, einen Tunnel, der endlich zum Licht führt. Noch ein Ruck, und eine Krabbe zieht sich aus dem dunklen Fleck der Körnchen. Sie ist noch nicht ganz draußen, sie traut sich noch nicht. Neben ihr und weiter ploppen immer mehr kleine Buchten auf und andere Tiere kommen, zeigen scheu ihre Glieder, angekündigt durch eine letzte Sandfontäne. Ihre Beine und Köpfe blinzeln auf und ab, zwischen Licht und keinem, sie tasten sich voran, gewöhnen sich langsam an den Lärm der Straße, das Rauschen des Meeres, das hier jedes andere Geräusch überzublenden scheint. Schaut man einen kurzen Moment weg, zuckt die Krabbe wieder in ihr Häuschen, sie zögert. Ein Hieb, ein Stoß und sie ist oben. Viele Minuten vergehen bis sich wieder etwas regt. Die leiseste Bewegung, der Schatten einer vorbeiziehenden Fliege könnte sie zurückscheuchen. Ein letzter Ruck, und sie ist endgültig oben. Ihr kleines schattiges Heim steht leer, während sie hastig, wahllos auf ihren neuen Reichtümern umherläuft. Von einem Hügel zum nächsten.
Nach fast einem Monat Israel fangen Abende, Menschen und Gesichter an sich zu vermengen. Was eines ersten Abends meine Augen nicht mehr schließen, mein Herz klopfen oder kalten Schauder über meinen Rücken laufen ließ, ist nun, wenn auch nicht zu meiner, Gewohnheit geworden. Geschichten der Schwebe, häufiger der Einsamkeit, des Aufbruchs und der Flucht. Noch nie habe ich in so kurzer Zeit so viel persönliches Erfahren. Als hätten die Münder nur darauf gewartet, dass jemand kommt, auftaucht aus dem nichts und ihre Worte auffängt.
Einige Gesichter lachen und singen. Ihre Augen leuchten wenn sie von der israelischen Sonne und saftigen Früchten sprechen, von dem Sand im Haar, wenn man im November vom Strand zurückkommt und von dem Himmel, der hier so nah ist. Von der Freiheit, der Gelassenheit, die sie hier leben.
Einige Gesichter haben einen, zwei, drei Funken Galle, die die Mundwinkel leicht nach unten biegt und brodelt und immer wieder leise flüstert, dass es Zuhause Schnee gab. Und Jahreszeiten. Und nicht diese verfluchten Chamsine, mit einer Luft, die man mit Löffeln essen kann. Sie erzählen viel aus der Vergangenheit, als wäre sie heute. Als könnte man sie zurückholen, und wenn man das täte, wäre die Welt wieder in Ordnung. Und sie wissen, was andere falsch machen. Sie wählen und verändern sich, verlieren sich in neuen Aufgaben und Identitäten, die sie vor der brennenden Sonne erwartungsvoller Augen schützt. Wie im Spiel –
Die Prinzessin ist Ruhe und Wirbel zugleich. Ihre schwarzen unbändigen Locken fallen ihr ins Gesicht, sie streicht sie zurück, sodass ihre Armbänder bis zum Ellenbogen klimpern. Geschäftig dreht sie die kleine Gaskochplatte an und macht gutes großmütterliches, russisches Essen. Kartoffeln mit Dill und Knoblauch, und wenn sie etwas zerfallen, lässt sie ein kleines Stück Butter hineinfallen. Autos, Sirenen und Wind drängen sich in die weit aufgerissenen Fenster ihres winzigen Dachzimmers im Herzen Tel Aviv. Hier ist Zuhause, sagt sie. Und lächelt. Sie ist verliebt in den Raum, den man hier einfach ergreifen kann. Zum leben und sich manchmal verwandeln. Und manchmal kriegt sie Besuch.
Der Ritter kommt aus Jerusalem und scheint vieler Sachen Meister. Er hat diverse Gürtel, schwarz und schwarz, und baut Rüstungen für Rollenspielfeste. In Sibirien hatte er einen Garten und ging mit dem Onkel Bären jagen. Er kann wunderbare Pfannkuchen und Pralinen machen und stammt von einem polnischen Adelsgeschlecht, wie er selbst erzählte. Und wenn es sein muss, kann er seine Frau ordentlich am Kopf packen und unter den kalten Duschstrahl halten. Sie war immer der Auffassung, ein richtiger Mann muss einen ordentlichen Schlag in den Kiefer verkraften können. Und selbstverständlich auch erwidern. Das war seine erste Frau. Ein Teufelsweib, echte sibirische Braut. Er grinst. Seine kindliche Zahnlücke spiegelt sich in der riesigen Narbe auf seiner Brust. Bei ihm und seinen Ritterkollegen herrscht eiserne Disziplin. Wenn man aufs Schlachtfeld kommt, muss man sich aufeinander verlassen können. Kein Alkohol, keine Drogen. Sicher muss man sich sein, wenn man in seinem Frust und Wut mit der Holzpique auf einen Freund zustürmt. Nüchtern heißt überlegt. Der Rest ist Zufall. Er hat schon viele Rüstungen platzen und reißen sehen. Und hat dann den Erlegten im Krankenhaus besucht. So ist es, besser in der Schlacht als Zuhause. Oder auf der Straße. In der Armee war es schwieriger. Liegst im Graben, Kommando „nicht schließen“. Wir sahen sie doch da vorne liegen und auf uns zielen, die Schweine! Wir hatten sie im Visier! Nicht schießen. Da kann man nichts machen. Aber wenn sein Blick auf die Prinzessin fällt, wird er wieder milder.
Sie sagt es gibt viele Verrückte, vor allem hier in Tel Aviv. Solche, die nicht zurechtkamen, die hängengeblieben sind. Es sind ihre Freunde, ihre Nachbarn. Ihre Konten sind gesperrt. Das Land können sie nicht verlassen, nur ihre Zimmer. Sie bleiben da, häufig um Mittag in einem der Spätis auf der Allenby, oder bei der Tahana Mirkazit, wo man nach Belieben Cognac und Jägermeister zu 100 Gramm im Plastikbecher kriegt. Sind sie enttäuscht? Ging es ihnen mal besser? Man habe ihnen Zuhause das Land von Milch und Honig versprochen, hört man oft. Und dann, sind einfach viele gefahren. Und wir sind gefahren…Ach.
Sie erzählt viel von heute und morgen. Von diesem Leben. Der Prinzessin gefällt es hier. Moskau hat sie schon fast vergessen. Ihren Stress und Stau und Frost und und und. Sie ist seit fast zwei Jahren im Land.
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